Ein Behandlungsabbruch mittels Patientenverfügung lässt den Anspruch auf Sterbegeld und Witwenrente bestehen
Die Frage, ob die Auszahlung von Sterbegeld oder Witwenrente verweigert werden darf, wenn ein Behandlungsabbruch mittels einer Patientenverfügung erfolgt, hat die Rechtsprechung jetzt entschieden. Erbrechtsexperte und Fachanwalt für Erbrecht Wolfgang Roth aus Obrigheim erläutert die für die Praxis sehr wichtige Entscheidung.
Der Fall des Landessozialgerichts Berlin - Brandenburg:
Der Erblasser war als Betreuer für Komapatienten zuständig. Als er von seiner Arbeit mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, erfasste ihn ein Motorrad. Er schlug dabei so unglücklich mit seinem Kopf auf dem Bordstein auf, dass er selbst ins Wachkoma fiel. Danach war er vollständig pflegebedürftig und über eine Magensonde künstlich ernährt worden. Die Besserung des Gesundheitszustandes war nicht mehr zu erwarten. Seine Frau und die volljährigen Söhne ließen die Versorgung über die Magensonde einstellen, weil ihr Vater im Rahmen einer Patientenverfügung geäußert hatte, niemals durch lebensverlängernde Maßnahmen weiterleben zu wollen. Die künstliche Ernährung wurde eingestellt und das Unfallopfer verstarb.
Dann beantragte die Witwe beantragte Hinterbliebenenrente und Sterbegeld. Die Behörde lehnte dies ab, weil ein rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen den anerkannten Unfallfolgen und dem Tod des Versicherten nicht feststellbar sei. Das Sozialgericht Berlin gab der dagegen erhobenen Klage statt, wogegen die Behörde Berufung einlegte. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die Witwe wegen des Verdachts eines Tötungsdeliktes wurde eingestellt.
Die Gründe der Entscheidung:
Das Landessozialgericht Berlin - Brandenburg gibt der Witwe Recht. Ihr steht der Anspruch auf Sterbegeld und Witwenrente zu, denn der Tod des ehemals Versicherten ist infolge des Versicherungsfalles eingetreten. Die sozialgesetzlichen Vorschriften setzen voraus, dass der Unfall zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt. Dazu ist eine ursächliche Verknüpfung des Unfallgeschehens bzw. seiner Folgen mit der betrieblichen Sphäre notwendig, also eine rechtliche Zurechnung für besonders bezeichnete Risiken der Arbeitswelt, für deren Entschädigung die gesetzliche Unfallversicherung einstehen muss. Dass der Verkehrsunfall den Arbeitsunfall wesentlich verursachte, ist offenkundig. Es können mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen vorhanden sein, wobei es sozialrechtlich nur darauf ankommt, dass das Unfallereignis wesentlich war. „Wesentlich“ ist nicht gleichbedeutend mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Sind eine oder mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so sind diese zuvor genannten Ursachen „wesentlich“. Das Unfallereignis, dessen Art und Ausmaß, der zeitliche Geschehensablauf und das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, die Krankheitsbefunde und Diagnosen nebst der Krankheitsgeschichte sind als Abwägungskriterium heranzuziehen.
Nach diesem Maßstab stellt der Fahrradunfall, der zum Wachkoma führte, eine wesentliche Ursache für den Tod des Erblassers dar. Er trug derart schwere Verletzungen davon, dass der Todeseintritt durch eine Sofortbehandlung und die unmittelbar danach beginnende, ununterbrochene intensive Pflege letztlich nur aufgeschoben war. Der Erblasser war daher unfallbedingt nicht mehr selbständig lebensfähig, sondern todgeweiht. Vier Jahre nach dem Unfall war nach Ansicht der Ärzte eine funktionelle Erholung ausgeschlossen. Daher trat der Tod letztendlich schon nach dem Unterlassen der künstlichen Ernährung ein. Dieses Unterlassen kann dem Unfallereignis das Gepräge der alles überragenden Ursache für das Versterben nicht nehmen, sondern ebnete nach dem Verkehrsunfall dem natürlichen Sterbeprozess letztlich nur wieder den Weg. Die Durchtrennung der Magensonde ändert nichts daran, dass wesentliche Todesursache der Unfall war.
Praxishinweis für Sie:
Die sowohl für das Erbrecht als auch Sozialrecht eminent wichtige Entscheidung bekräftigt erstmals, dass die Umsetzung einer Patientenverfügung bei einem zuvor erlittenen Arbeitsunfall keinen Ausschluss der Hinterbliebenenleistungen herbeiführt, wie Fachanwalt für Erbrecht, Wolfgang Roth, betont. Das Urteil gibt Rechtssicherheit denjenigen, die sich um die Umsetzung einer Patientenverfügung kümmern:
Ist Ursache der Voraussetzungen zur Anwendung der Patientenverfügung auslösenden Umstände ein (anerkannter) Arbeitsunfall, werden die Ansprüche auf Witwenrente und / oder Sterbegeld nicht dadurch ausgeschlossen, dass dem Willen des Unfallopfers Rechnung getragen wird und dieser nach seinem zuvor erklärten Willen sterben darf. Die sehr ausführliche Begründung des Urteils zeigt, dass sich das Sozialgericht erhebliche Gedanken auch über die gesellschaftliche Akzeptanz und den gesetzgeberischen Willen zur Patientenverfügung einerseits sowie über die Frage, ob durch einen Anspruchsausschluss mittels sozialrechtlicher Normen anderseits die Leistungsgemeinschaft die Folgen einer umgesetzten Patientenverfügung tragen muss. Dies wird eindeutig und unter Hinweis auch auf rechtspolitische und naturwissenschaftlich-philosophische Erwägungen zum Kausalitätsbegriff bejaht.
Die Entscheidung ist wegen der sehr abgewogenen Urteilbegründung auf andere sozialrechtliche Ansprüche, wie z.B. dass Waisenrenten durch den entsprechenden Behandlungsabbruch nicht verlorengehen, übertragbar. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache wurde die Revision zugelassen. Über die Entscheidung des Bundessozialgerichts im Revisionsverfahren informiert Sie zu gegebener Zeit wiederum Ihr Obrigheimer Erbrechtsspezialist.
Fundstelle: Landessozialgericht Berlin - Brandenburg, Urteil vom 7.11.2013 – L 3 U 36/12